Telefonieren gegen die Einsamkeit: «Mein Ohr für Dich» – Das Gratis-Alltagstelefon für die ganze Schweiz

Der Verein «Mein Ohr für Dich-einfach mal reden!» betreibt ein kostenloses, anonymes, niederschwelliges Telefon für die ganze Schweiz, um einsamen Menschen, Jung & Alt, eine soziale Teilhabe zu ermöglichen. Telefonieren gegen die Einsamkeit, das erste Gratis-Alltagstelefon zum Plaudern für Jung & Alt für die Schweiz: 0800 500 400.

Das Projekt «Mein Ohr für Dich – einfach mal reden!» startete im März 2021 mit viel Engagement, Herzblut, Zuversicht und Fachkompetenz. 

Wir alle wissen, das Bedürfnis nach Kontakt zu anderen Menschen ist universell, altersunabhängig und gesundheitsfördernd. Ein Mangel an Sozialkontakten kann schwerwiegende gesundheitliche Probleme mit sich bringen. Dazu möchte das Alltagstelefon im Rahmen der Gesundheitsprävention einen relevanten gesellschaftlichen Beitrag leisten. Das Projekt möchte die Gesellschaft betreffend Thema «Einsamkeit» sensibilisieren, das Thema entstigmatisieren und den sozialen Zusammenhalt damit stärken. Aktuell arbeiten alle (Projektleitung sowie die freiwillig Mitarbeitenden) professionell im Rahmen der Freiwilligenarbeit. Das Projekt ist ausschliesslich spendenfinanziert.


Fragen an Philippe Goetschel, Co-Projektleiter Verein Mein Ohr für Dich-einfach mal reden!

 1. Wie einsam sind Frau und Herr Schweizer? 

Die letzten Zahlen des Bundes zum Thema «Einsamkeit»: Wie Sie daraus entnehmen können, fühlen sich 38 % der Schweizer Bevölkerung einsam. Aufgrund dieser hohen Prozentzahl wäre die Politik dringend aufgefordert, etwas dagegen zu unternehmen, zumal die Tendenz vermutlich eher nach oben zeigt. Zumal diese Zahlen vor der Pandemie erhoben wurden, wir wissen, die Covid-Pandemie hat viele Menschen zusätzlich einsam gemacht.

 2017 fühlten sich 38 % der Bevölkerung ab 15 Jahren einsam. Die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund fühlt sich weniger einsam (35 %) als die Bevölkerung mit Migrationshintergrund der zweiten Generation (42 %) und jene der ersten Generation (46 %). Gut ein Drittel der Schweizer Bevölkerung kennt das Gefühl der Einsamkeit – das Thema Einsamkeit hat gesellschaftspolitische Relevanz, Politik und Zivilgesellschaft sind aufgefordert, Handlungsstrategien und neue Angebote zu entwickeln. 


 2. Einsamkeit nimmt in allen Altersgruppen zu. Wieso? 

Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen des 21. Jahrhunderts, welches jede und jeden im Zeitalter der Individualisierung, Digitalisierung und Gentrifizierung treffen kann. Das Gefühl der Einsamkeit ist grundsätzlich keine Frage des Alters, der sozioökonomischen und religiösen Zugehörigkeit, noch des Geschlechts. Bestimmte Faktoren resp. Lebensbedingungen können Einsamkeit verstärken resp. fördern, wie z. B. Krankheit, alleinerziehender Elternteil, Armut etc., die Aufzählung gilt nicht als vollständig. Einsamkeit ist auch eine Frage des Gefühls einer fehlenden Zugehörigkeit. Gehört werden, zu jemandem gehören, zu einer Gruppe zugehören, sei es Familie, Verein, Freizeitclub etc., ist ein grundlegendes Bedürfnis für fast alle Menschen. Kein Gefühl der Zugehörigkeit zu haben, ist eng verbunden mit dem Gefühl der Einsamkeit. Ein gutes Telefongespräch, einen kurzen Moment der Beziehungspflege und Zugehörigkeit, kann dem Gefühl der Einsamkeit entgegenwirken. 

Es kommen auch zusätzliche altersspezifische Faktoren ins Spiel, wie zum Beispiel bei Seniorinnen und Senioren, bei denen zunehmend das soziale Netz wegbricht resp. wegstirbt. 

Bei den jüngeren Generationen sind sicherlich die sozialen Medien mitverantwortlich für die Einsamkeitsproblematik. Zudem sind junge Menschen in der heutigen Arbeitswelt oft gezwungen, ihren Wohnort mehrmals zu wechseln, welches entsprechend zu einer «gefühlten Heimatlosigkeit» führen kann. 

Bei der mittleren Generation, die mitten im beruflichen und /oder familiären Leben stehen, kann auch die mangelnde Zeit für soziale Kontakte eine Rolle spielen. 

Grundsätzlich ist der Weg in die Einsamkeit eine komplexe Geschichte, bei der individuelle und gesellschaftliche Faktoren, wie zum Beispiel Geldknappheit/Armut, mitentscheiden können. 

Allgemein kann gesagt werden: Von Einsamkeit sind sowohl ältere als auch jüngere Menschen betroffen. Besonders gefährdet sind Menschen in Übergangssituationen im Leben, wie dem Einstieg in Studium, Ausbildung, Beruf und Rente oder wenn die Person von einem Schicksalsschlag ereilt wird, etwa einer Trennung oder dem Verlust eines geliebten Menschen. 


3. Das Thema «Einsamkeit» hat nach wie vor grosse gesellschaftliche und politische Relevanz. Welche gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen kann Einsamkeit haben? 

Einsamkeit entsteht, wenn die eigenen sozialen Beziehungen nicht den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen entsprechen. Der empfundene Mangel kann sich sowohl auf die Zahl der Kontakte als auch auf die Tiefe und Enge der Bindungen beziehen. Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, daher sind die Ursachen für Einsamkeit individuell und lassen sich nur schwer verallgemeinern. 

Verschiedene Studien haben mittlerweile deutlich aufgezeigt, dass Einsamkeit krank macht. 

Einsamkeit ist demnach so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag. Einsamkeit schadet so sehr wie Alkohol. Einsamkeit ist laut den Forschern schädlicher als kein Sport zu treiben. Einsamkeit ist doppelt so schädlich wie Fettsucht. 

Die Überlebenswahrscheinlichkeit kann laut jüngsten Studien kann gegenüber sozial weniger aktiven Menschen um 50 % höher liegen, wenn man eines guten Freundes – und Bekanntenkreis hat. 

(siehe dazu: Holt-Lunstad, J, Smith, T.B., *Baker, M., *Harris, T., & *Stephenson, D. (2015). Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality: A Meta-Analytic Review. Perspectives on Psychological Science, 10 (2), 227-237. doi: 10.1177/1745691614568352) 


4. Wieso ist Einsamkeit ein Tabuthema? 

Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft nach wie vor negativ konnotiert, obwohl vermutlich jeder Mensch im Laufe des Lebens das Gefühl der Einsamkeit einmal kennengelernt hat. Einsamkeit ist keine psychische Krankheit, wird aber ähnlich tabuisiert. Manchmal spielt auch die Angst vor Einsamkeit oder sozialer Isolation eine Rolle. Auf jeden Fall scheint unsere Gesellschaft davon auszugehen, dass Menschen, die sich einsam fühlen oder allein sind, selbst schuld sind. Diese gesellschaftliche Attribution wird von vielen Menschen einfach übernommen, sie fühlen sich dann selbst schuldig und reden nicht darüber (Selbstattributionstheorie). In der Folge bleibt das Thema «Einsamkeit» ein Tabuthema. 


5. Sie haben den Verein «Mein Ohr für Dich-einfach mal reden!» im Frühling 2021 gestartet. Wie ist es zu dieser Initiative gekommen und was ist die Idee dahinter? 

Die Idee des ersten Alltagstelefons in der Schweiz entstand aus einer Bewegung in Basel, welche in der ersten Welle der Pandemie Nahrungsmittel für Seniorinnen und Senioren nach Hause brachte. Sehr bald wurde deutlich, dass sehr wohl das Grundbedürfnis nach Nahrung wichtig ist, das Grundbedürfnis nach sozialem Austausch und Kontakt aber nicht berücksichtigt wurde. 

Aufgrund dieser wichtigen Erkenntnis wollten wir, Daniela & Philippe Goetschel Schnizer, ein neues Angebot geschaffen, welches genau in diese Lücke tritt – Mangel an Sozialkontakten, für alle Menschen, für Jung & Alt. Mittlerweile sind genug Forschungsdaten vorhanden, die aufzeigen, dass auch jüngere Generationen zunehmend unter Mangel an Echtzeit-Sozialkontakten leiden. 

Wir alle wissen, das Bedürfnis nach Kontakt zu anderen Menschen ist universell, altersunabhängig und gesundheitsfördernd. Ein Mangel an Sozialkontakten kann schwerwiegende gesundheitliche Probleme mit sich bringen. Dazu möchte das Alltagstelefon im Rahmen der Gesundheitsprävention einen relevanten gesellschaftlichen Beitrag leisten. Das Projekt möchte die Gesellschaft betreffend Thema «Einsamkeit» sensibilisieren, das Thema entstigmatisieren und den sozialen Zusammenhalt damit stärken. Aktuell arbeiten alle (Projektleitung sowie die freiwillig Mitarbeitenden) professionell im Rahmen der Freiwilligenarbeit. 


6. Braucht es nicht, etwas Mut, um zum Telefonhörer zu greifen? 

Der Weg aus der Einsamkeit geht nicht ohne einen ersten aktiven Schritt. Den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und die Nummer 0800 500 400 zu wählen, kann ein erster solcher Schritt sein. 

Möglicherweise kann aber auch der Besuch in einem Quartiertreffpunkt ein erster Schritt bedeuten. Wichtig ist zu wissen, dass der erste Schritt aus der Einsamkeit selbst aktiv bewältigt werden muss, allenfalls mit Unterstützung. Den ersten Schritt kann aber von niemand anderem gemacht werden. 

7. Der Verein ist nun bereits im 3. Betriebsjahr und auf Erfolgskurs. Wie sehen die Anzahl Anrufe aus und worauf führen Sie dies zurück? 

Der Startschuss zu dieser Initiative erfolgte im Frühjahr 2021 und ist nun bereits im 3. Betriebsjahr auf Erfolgskurs – die Zahlen belegen klar: Ein Bedarf an einer kostenlosen Hotline für einsame Menschen allen Alters, Jung & Alt, ist gegeben. 

Anzahl Anrufe
März 2021 – März 2022 |1734  (Das Projekt startete im März 2021.) 
Januar 2022 – Dezember 2022 | 2563 

Wie bereits in Punkt 2 aufgezeigt, Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, welches zunimmt und welchem sich Politik und Gesellschaft dringend annehmen sollte. Einsamkeit kennt keine Altersgrenzen – bei uns können alle, ab 16 Jahren, das Alltagstelefon nutzen. Unser kostenloses Alltagstelefon für Jung & Alt betreibt eine Pionierarbeit und versucht das Thema zu enttabuisieren und zu entstigmatisieren. 

8. Was erwartet den Anrufer? 

Ganz wichtig: Unsere freiwillig Mitarbeitenden führen ein Gespräch mit den Anrufenden auf Augenhöhe. Die Freiwilligen sind nicht die Experten und die Anruferin oder der Anrufer ist nicht die oder der Bittsteller*in. Es entwickelt sich ein alltägliches Gespräch am Telefon, ähnlich wie ein Telefongespräch mit einem Freund, einer Bekannten, einem Nachbarn. Dabei können sehr unterschiedliche Themen zum Tragen kommen, grundsätzlich kann «über Gott und die Welt» miteinander gesprochen werden. Darum heisst es so schön auf unserer Webseite: Du möchtest plaudern, reden, erzählen, diskutieren, zuhören & teilen, aber niemand gerade da! Ruf uns an 0800 500 400, kostenlos, anonym & vertraulich, Redezeit für Dich. Telefongespräche über Alltägliches und Nichtalltägliches, wir brauchen alle mal ein offenes Ohr!


9. Und wer ist am anderen Ende des Hörers? 

Die freiwillig Mitarbeitenden werden nach den Standards von Benevol Schweiz geführt und begleitet. 

Die freiwillig Mitarbeitenden werden von der Projektleitung rekrutiert, ausgebildet und auf ihre Aufgabe innerhalb des Projektes umfassend eingeführt. Die rekrutierten Freiwilligen verfügen über einen «gut gefüllten Rucksack», haben grundsätzlich ein grosses Interesse, mit Menschen in Kontakt zu sein, haben Freude am Telefonieren und sich mit Alltagssorgen der Anrufenden auseinanderzusetzen. 

Der Prozess der Rekrutierung der freiwillig Mitarbeitenden wird von der Projektleitung verantwortungsvoll und professionell durchgeführt. Der Prozess ist klar vorgegeben und erfolgt im Sinne der Qualitätskontrolle einem standardisierten Ablauf. Der Rekrutierungsprozess schliesst mit einer internen Schulung ab, danach wird bei gegenseitigem Einverständnis eine schriftliche Arbeitsvereinbarung aufgesetzt. Die freiwillig Mitarbeitenden werden während ihres Telefondienstes jeweils im Hintergrund telefonisch begleitet, die Projektleitung steht während den Telefondiensten im Pikettmodus zur Verfügung. Die freiwillig Mitarbeitenden werden, ebenfalls zur Qualitätssicherung, regelmässig supervisorisch begleitet und beraten. 


10. Wie rekrutieren Sie die freiwilligen Zuhörerinnen und Zuhören und wer sind sie? 

Unsere freiwillig Mitarbeitenden stossen auf verschiedenen Wegen zu uns, über die Freiwilligenplattform Benevol Schweiz, über die Freiwilligenplattform UBS Helpetica, aber direkt über unsere Internetseite www.meinohrfuerdich.ch 


11. Kann jeder bei diesem Freiwilligenprojekt mitmachen? 

Grundsätzlich ja, ein paar Bedingungen müssen allerdings erfüllt sein, diese sind auf unserer Webseite nachzulesen. www.meinohrfuerdich.ch/mach-mit


12. Was sind «erste Telefonfreundschaften» und «Tandem-Angebote»? 

Telefonfreundschaften und Tandem sind synonym zu verstehen. Telefonfreundschaften werden meist von älteren Menschen gewünscht, die es bevorzugen, einmal in der Woche während einer Stunde immer mit der gleichen freiwilligen Person zu plaudern. 


13. Wie wird das Freiwilligenprojekt finanziert? 

Das ganze Projekt ist ausschliesslich spendenfinanziert. Alle am Projekt Beteiligten, die Projektleitung und alle freiwillig Mitarbeitenden, arbeiten ehrenamtlich und professionell, es werden keine Löhne ausbezahlt. 


14. Haben Sie weitere Pläne mit diesem Projekt? 

Wir haben grundsätzlich noch viele Ideen und Pläne, daran mangelt es nicht. Wir müssen allerdings behutsam mit dem Projektaufbau umgehen, damit die finanziellen und personellen Ressourcen nicht überstrapaziert werden. 


15. Was wünschen Sie sich bezüglich der Einsamkeit in der Schweiz? 

a. Das erste Alltagstelefon in der Schweiz soll ein etabliertes, finanziell gesichertes und bekanntes Telefonangebot sein. Einsame Menschen, Jung & Alt, haben die Möglichkeit jederzeit anzurufen, um mittels Gespräch mit den Freiwilligen, für einen Moment soziale Teilhabe an der Gesellschaft zu erfahren. 

b. Das Thema Einsamkeit soll enttabuisiert werden. Selbstgewählte Einsamkeit und Alleinsein sollen als gesellschaftlich akzeptierte Bedürfnisse gelten dürfen. Hingegen soll es allgemein anerkannt sein, dass chronische Einsamkeit ein gesellschaftlich relevanter Faktor ist. Dies soll auf politisch auf kommunaler, Kantons- und Bundesebene zu entsprechenden Strategien führen. 

zVg
Symbolbild von Manfred Antranias Zimmer auf Pixabay

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