Der erste Advent hat eine besondere Stimmung. Nicht, weil plötzlich alles besinnlich wäre – dazu ist unser Alltag meist viel zu voll –, sondern weil irgendwo zwischen Dunkelheit und Lichterglanz die leise Frage auftaucht: «Mit wem gehe ich eigentlich durch diese Zeit?» In einer Stadt wie Weinfelden kreuzen sich täglich Hunderte Wege. Wir stehen nebeneinander an der Ampel, warten gemeinsam auf den Zug, sitzen Rücken an Rücken im Café. Und trotzdem kennen wir die meisten Menschen um uns herum kaum. Wir wissen, wo sie parken, aber nicht, wie es ihnen geht. Wir hören ihre Schritte im Treppenhaus, aber nicht ihre Geschichte.
Mir ist das vor ein paar Wochen schmerzlich bewusst geworden, als ich meiner Nachbarin wieder einmal im Eingang begegnete. Sie wohnt seit Jahren nebenan. Ich kannte ihren Nachnamen vom Klingelschild, ihren Alltag vom Geräusch des Staubsaugers am Samstagmorgen und ihr Lachen, wenn Besuch da war. Aber eigentlich kannte ich sie nicht. Es war ein ganz normaler Abend, ich kam müde nach Hause, gedanklich noch halb bei der Arbeit. Sie stand vor dem Haus, eine grosse Einkaufstasche in der Hand, der Griff leicht in die Finger geschnitten, der Blick konzentriert auf die Treppe. Für einen Moment war ich versucht, einfach mit einem schnellen «Grüezi» an ihr vorbeizuhuschen – so, wie wir es alle viel zu oft tun.
Etwas Unbekanntes hielt mich zurück. Vielleicht war es ihre Art, kurz durchzuatmen, bevor sie die Treppe in Angriff nehmen wollte. Vielleicht war es einfach der richtige Moment. Ich blieb stehen und hörte mich sagen: «Soll ich Ihnen die Tasche hochtragen?» Es folgte dieser winzige Augenblick der Überraschung in ihrem Gesicht, dann ein dankbares Lächeln. Wir gingen gemeinsam die Stufen hoch, sprachen über nichts Wichtiges – das Wetter, den vollen Laden, die Müdigkeit nach einem langen Tag. Und doch war die Luft zwischen uns eine andere als sonst. Vor ihrer Tür blieb sie stehen und sagte leise: «Danke. Manchmal ist es schwer, wenn man alles alleine tragen muss – nicht nur die Einkaufstasche.» Dieser Satz ist mir geblieben. In den Tagen danach begann ich, meine Umgebung anders wahrzunehmen. Plötzlich fiel mir auf, wie viele Menschen in Weinfelden Dinge «alleine tragen». Die ältere Frau mit dem Rollwägelchen, die jeden Morgen Richtung Zentrum unterwegs ist. Der Mann, der stets etwas zu lange vor dem Kiosk stehenbleibt, als würde er sich nicht nur für die Zeitung entscheiden müssen. Die junge Mutter, die mit Kinderwagen, Tasche und Eile gleichzeitig jongliert. Der Jugendliche, der zwar Kopfhörer trägt, aber immer wieder unsicher in die Runde blickt. Sie waren alle schon immer da – ich hatte sie nur selten wirklich gesehen.
Advent wird oft mit Warten verbunden: auf Ferien, auf einen besonderen Abend, auf ein Fest. Vielleicht könnte er aber auch eine Einladung sein, weniger auf etwas «Später» zu warten und mehr im «Jetzt» anzukommen – bei den Menschen, die direkt um uns herum leben. Man muss nicht alle Nachbarn zum Znacht einladen, um etwas zu verändern. Manchmal reicht es, stehen zu bleiben, nachzufragen, Hilfe anzubieten, ein Gespräch nicht zu schnell zu beenden. Solche Gesten lösen keine Schlagzeilen aus, aber sie verändern die Atmosphäre in einem Haus, in einem Quartier, in einer Stadt. Seither frage ich mich immer wieder: Wie viele Einsamkeiten verstecken sich hinter Türen, an denen wir täglich vorbeigehen? Wie viele würden gerne erzählen, wenn jemand einmal ernsthaft fragt: «Wie geht es Ihnen wirklich?» Und wie oft sind wir eigentlich nur zwei Sätze davon entfernt, dass aus anonymem Nebeneinander ein vorsichtiges Miteinander wird? Der erste Advent ist ein guter Moment, darüber nachzudenken. Nicht mit schlechtem Gewissen, sondern mit der Chance, etwas anders zu machen als bisher.
Darum lade ich dich ein: Schau in dieser Woche einmal ganz bewusst hin. Vielleicht gibt es in deinem Treppenhaus, in deiner Strasse, an deinem Arbeitsplatz oder auf deinem täglichen Weg jemanden, der sich freuen würde, wenn du kurz stehen bleibst. Es muss nichts Besonderes sein – manchmal ist das Normalste der Welt das Wertvollste: ein echtes «Grüezi», ein ehrliches Lächeln, eine helfende Hand, ein Moment von Aufmerksamkeit. Aus solchen Augenblicken können Geschichten entstehen, die uns weit über den Advent hinaus begleiten.
Nächsten Sonntag erzähle ich, wie aus dieser kleinen Begegnung mit meiner Nachbarin mehr geworden ist, als ich mir an diesem Abend je hätte vorstellen können – und warum Höflichkeit manchmal nur der Anfang von echter Nähe ist.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern schon jetzt eine frohe und besinnliche Weihnachtszeit.
Leserbeitrag – anonym















