Der vierte Adventssonntag fühlt sich immer ein wenig an wie eine Schwelle. Die letzten Kerzen werden angezündet, die Planungen für die Festtage werden konkret, und gleichzeitig ist da diese leise Frage: «Und was bleibt, wenn alles wieder vorbei ist?» In diesem Jahr kann ich darauf eine ehrlichere Antwort geben als sonst. Denn die Begegnungen der letzten Wochen haben in meinem Alltag Spuren hinterlassen, die nicht einfach mit den Weihnachtsdekorationen im Januar verschwinden werden.
Nach unserem ersten gemeinsamen Spaziergang durch Weinfelden war uns allen klar, dass wir das nicht als einmalige Aktion in der Adventszeit stehen lassen wollten. Die Initiative war so unspektakulär gestartet, dass niemand Druck verspürte, nun etwas «Grosses» daraus machen zu müssen. Und gerade deshalb war die Bereitschaft gross, einen zweiten Schritt zu wagen. Wir vereinbarten, uns im neuen Jahr wieder zu treffen – ungezwungen, ohne Verpflichtungen. Vielleicht zu einem weiteren Spaziergang, vielleicht zu einem Kaffee, vielleicht zu einem einfachen Austausch im Hausflur. Was mich am meisten beeindruckt hat, war nicht, dass wir uns verabredet haben. Es war, wie sich der Alltag zwischen diesen Treffen verändert hat. Plötzlich waren die Gesichter im Treppenhaus keine anonymen Kulissen mehr. Ein kurzer Blick reichte, und man wusste: «Der hat einen strengen Tag hinter sich», «Sie freut sich auf Besuch», «Da ist noch etwas offen, über das wir letztes Mal gesprochen haben.» Es entstanden kleine Gespräche zwischen Tür und Angel, die nicht mehr nur aus Höflichkeitsfloskeln bestanden. Sätze wie «Wenn du mal etwas brauchst, klopf einfach» waren nicht mehr leere Redensarten, sondern begannen, glaubwürdig zu wirken.
Besonders berührt hat mich ein Moment, als eine Nachbarin sagte: «Ich hätte nie gedacht, dass ich mich hier einmal so zu Hause fühlen würde. Ich wohne seit Jahren an dieser Adresse – aber erst jetzt habe ich das Gefühl, wirklich angekommen zu sein.» Das war kein grosses Bekenntnis, eher ein leiser Satz, fast nebenbei gesagt. Und doch steckte darin viel: das Eingeständnis von Einsamkeit, von stiller Unsicherheit, aber auch von Dankbarkeit. Wir hatten nichts Spektakuläres getan, keine Weltrevolution angezettelt – wir waren einfach füreinander sichtbar geworden. Für mich persönlich hat dieser Advent deshalb eine klare Botschaft hinterlassen: Nächstenliebe ist kein grosses Wort, das nur in Festtagsreden gehört. Sie zeigt sich im Alltag, in Entscheidungen, die oft nur Sekunden dauern. Bleibe ich stehen oder gehe ich weiter? Frage ich nach oder lasse ich die Gelegenheit verstreichen? Traue ich mich, jemanden einzuladen – oder bleibe ich in meinem sicheren, aber auch engen Kreis? Es kostet Überwindung, sich zu öffnen, keine Frage. Aber es kostet noch mehr, wenn wir es nicht tun: nämlich die Chance, einander das Leben ein wenig leichter zu machen.
Weinfelden ist für mich durch diese Erfahrungen kleiner und gleichzeitig grösser geworden. Kleiner, weil mir die Stadt vertrauter erscheint, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, anonym durch Strassen zu gehen, die mir gleichgültig sind. Grösser, weil ich gemerkt habe, wie viele Geschichten in dieser vermeintlichen «Kleinstadt» unterwegs sind, wie viel Schmerz, wie viel Hoffnung, wie viel Humor verborgen in diesen Häusern steckt. Und weil mir bewusst geworden ist, dass wir alle ein Stück Verantwortung dafür tragen, ob jemand in unserer Nähe das Gefühl hat, dazuzugehören oder nur mitzuschwimmen. Vielleicht fragst du dich, ob du für so etwas überhaupt der «Typ» bist. Ob du genügend Zeit, Mut oder Worte hast. Meine Erfahrung der letzten Wochen ist: Es braucht weniger, als man denkt. Man muss nicht der geborene Netzwerker sein, kein Organisationstalent, kein Menschenmagnet. Es reicht, wenn du bereit bist, irgendwo anzufangen. Mit einem «Wie geht es Ihnen?», das du auch wirklich meinst. Mit einem «Wenn es zu schwer ist, tragen wir es zu zweit», das du notfalls auch durchziehst. Mit einem «Wollen wir ein Stück zusammen gehen?», das nicht nur auf den Spaziergang bezogen sein muss.
Dieser Advent hat mir gezeigt, dass die Lichterketten in den Strassen zwar schön sind, aber nicht das Entscheidende. Das Entscheidende sind die Lichter, die wir im Alltag bei anderen anzünden – durch Aufmerksamkeit, durch Zeit, durch Respekt. Sie sind unsichtbar, flackern manchmal, gehen auch wieder aus. Aber sie können Wärme hinterlassen, an die man sich erinnert, wenn es im Leben einmal dunkler wird.
Ich möchte dir, der du diese Zeilen liest, zum Abschluss von Herzen wünschen, dass du in diesen Tagen Menschen um dich hast, mit denen du nicht nur den Tisch, sondern auch Gedanken, Sorgen und Freude teilen kannst. Und ich wünsche dir ebenso, dass du für jemanden genau dieser Mensch bist. Denn irgendwo in deiner Nähe gibt es bestimmt jemanden, der sich freuen würde, wenn du stehen bleibst, statt weiterzugehen.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern von WYFELDER – lokal informiert frohe und besinnliche Weihnachten – und viele kleine Momente von gelebter Nachbarschaft, die auch dann weitergehen, wenn der Advent vorbei ist.
Leserbeitrag – anonym















