Je weiter der Advent voranschreitet, desto deutlicher spüre ich, wie sehr sich meine Wahrnehmung meines Wohnortes verändert hat. Weinfelden ist nicht mehr einfach nur der Ort, an dem ich wohne, arbeite, einkaufe. Es ist zu einem Geflecht von Gesichtern, Stimmen und Geschichten geworden, die sich immer mehr miteinander verbinden. Was mit einer einzigen Geste im Treppenhaus begonnen hat, ist zu einer Reihe von Begegnungen geworden, aus denen sich etwas geformt hat, das ich vor ein paar Wochen nicht für möglich gehalten hätte.
Vor einigen Tagen stand ich wieder einmal vor dem Haus, im Begriff, zur Arbeit zu gehen. Vor mir die übliche Szene: Menschen, die eilig aneinander vorbeiziehen, Türen, die kurz geöffnet und gleich wieder geschlossen werden, ein paar wenige Grüsse, die hastig in den Morgen geworfen werden. Ich kam mit meiner Nachbarin ins Gespräch, wir blieben ein wenig länger stehen als sonst, und nach und nach gesellten sich zwei weitere Nachbarn dazu. Zuerst war es nur ein unverbindlicher Austausch über das Wetter, die frühe Dunkelheit, die Lichter in der Altstadt. Dann rückten wir unmerklich näher an Themen heran, die persönlicher waren. Einer der Nachbarn sagte plötzlich: «Ich wohne jetzt seit fast zwölf Jahren hier und kenne trotzdem kaum jemanden im Haus. Man nickt sich zu, aber das war es dann.» Eine andere meinte: «Ich habe manchmal das Gefühl, ich könnte wegziehen, und es würde kaum auffallen.» Es wurde kurz still, dann lachten alle ein wenig verlegen – und gerade dieses Lachen machte deutlich, wie ernst das Gesagte war. Wir alle kannten dieses Gefühl: Teil eines Ortes zu sein und doch nicht wirklich «dazuzugehören». Im Alltag funktionieren, aber selten Teil eines Miteinanders zu sein.
Aus dieser spontanen Ehrlichkeit entstand ein überraschender Vorschlag: «Wollen wir uns nicht einmal einfach treffen und zusammen einen Abendspaziergang machen? Ohne Programm, ohne Verpflichtung, einfach, um einander ein bisschen besser kennenzulernen?» Es war einer dieser Sätze, die leicht im Nichts verpuffen könnten, wenn niemand sie aufnimmt. Doch an diesem Morgen nahmen wir ihn ernst. Wir einigten uns auf den kommenden Mittwoch, auf eine Uhrzeit, auf einen Treffpunkt vor dem Haus. Es fühlte sich gleichzeitig ungewohnt und selbstverständlich an. Als der Mittwoch kam, fragte ich mich kurz, ob überhaupt jemand auftauchen würde oder ob es bei der guten Absicht geblieben war. Doch als ich vor das Haus trat, standen bereits drei Nachbarinnen und Nachbarn dort, kurz darauf kamen weitere dazu. Am Ende waren wir zu siebt: unterschiedliche Lebensgeschichten, unterschiedliche Altersgruppen, unterschiedliche Hintergründe – verbunden durch dieselbe Haustür, dieselbe Strasse, dieselbe Stadt.
Wir gingen gemeinsam los, durch die Gassen von Weinfelden, vorbei am Marktplatz, an Schaufenstern, an Orten, die jeder von uns kannte und doch immer aus dem eigenen Blickwinkel wahrgenommen hatte. Es war erstaunlich, wie sich die Atmosphäre veränderte, nur weil man nicht mehr alleine unterwegs war. Wir blieben stehen, wenn jemand etwas erzählen wollte: eine Erinnerung an früher, ein Lieblingsort, eine kleine Anekdote aus dem Alltag. Niemand hatte den Anspruch, besonders spannend sein zu müssen, und genau das machte die Gespräche so angenehm. Im Laufe dieses Spaziergangs merkte ich, wie sich in mir ein Gefühl von «Gemeinsam unterwegs» einstellte, das ich lange vermisst hatte. Es war nichts Grosses passiert – kein spezielles Ereignis, keine tiefe Lebensbeichte –, und doch entstand eine Nähe, die sich schwer erklären lässt. Wir hatten uns die Zeit genommen, nebeneinanderherzugehen, zuzuhören, Fragen zu stellen, nicht sofort zum nächsten Punkt weiterzurennen. In einer Welt, in der alles schneller werden soll, war das fast schon ein stiller Protest. Als wir zurück vor unserem Haus standen, wollte niemand so recht als Erste oder Erster nach oben verschwinden. Wir blieben noch eine Weile beisammen, sprachen über mögliche weitere Treffen, über die Idee, vielleicht einmal zusammen einen Kaffee zu trinken oder einen Abend im Quartier zu verbringen. Es gab keine Protokolle, kein Vereinsreglement, keine WhatsApp-Gruppe mit zehn Untergruppen. Es gab nur das Gefühl: Wir müssen nicht wieder in dieses alte Muster zurückfallen, in dem wir Tag für Tag aneinander vorbeileben.
Vielleicht gibt es auch in deiner Umgebung solche unausgesprochenen Möglichkeiten. Menschen, mit denen du seit Jahren Türe an Türe wohnst und deren Stimme du trotzdem nur vom «Grüezi» kennst. Familien, die neu zugezogen sind und deren Namen niemand so genau weiss. Alleinstehende, die jeden Tag zur gleichen Zeit am Fenster stehen. Diese Menschen existieren nicht nur in deinem Blickfeld – sie sind Teil deines Lebensraums. Und vielleicht warten sie, ohne es zu sagen, darauf, dass jemand einen einfachen Satz ausspricht: «Hätten Sie einmal Lust, zusammen einen Spaziergang zu machen?»
Nächsten Sonntag erzähle ich, wie es mit unserer kleinen Nachbarschaftsgruppe weiterging, was aus diesem ersten Spaziergang entstanden ist – und weshalb dieser Advent für mich etwas Grundsätzliches verändert hat, das weit über die Feiertage hinausreicht.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine frohe und besinnliche Weihnachtszeit.
Leserbeitrag – anonym














